In meinen Anfangszeiten als Korrektorin waren die „Adleraugen“ unter den Kolleg:innen mein großes Vorbild. Ein Leerzeichen zu viel, ein falsches Anführungszeichen, minimal abweichende Abstände – wie kann man so etwas nur mit freiem Auge sehen?
Solche Adleraugen wollte ich auch! Den Hasenblick hatte ich nämlich schon. Die friedlichen Langohren haben alles auf ihrem Radar – nur so detailliert erkennen können sie nicht, zumindest nicht, ohne den Kopf zu drehen. Mit dem Hasenblick entdecke ich den drohenden Feind in Gestalt herannahender Widersprüche und inhaltlicher Brüche oder verdächtige Bewegungen am Wortwaldrand infolge uneinheitlich verwendeter Begriffe.
Der Protagonist im Krimi, der zu Beginn des Dialogs einen Kaffee bestellt hat, starrt zwei Seiten weiter plötzlich in ein Bierglas. Ein Verweis auf eine nicht mehr existierende Behörde schickt die Leser:innen auf Zeitreise …
Ein weiter Wissenshorizont und der seit einem halben Jahrhundert konsequent gepflegte Katalog im Hirn sind dabei sehr hilfreich. Neugier bildet, und die Neigung zur Speicherung unnützen Wissens erweist sich doch als nützlich. Last, not least ist die humane Intelligenz, die Zusammenhänge herstellt oder in Frage stellt, dann doch nicht ersetzbar.
Viel Erfahrung, Übung und Lernwille haben mittlerweile auch mir das Prädikat „Adlerauge“ eingebracht. Aus luftiger Höhe gibt es am Textgrund eine Vielzahl an Details zu unterscheiden, die Unkundigen gar nicht auffallen und dennoch stören: ein Bindestrich statt eines Halbgeviertstrichs als Minuszeichen, eine verloren gegangene Tiefstellung, ein Buchstabe am Wortende im falschen Schriftschnitt …
In der täglichen Praxis bewährt sich für Adler und Hase die Arbeitsteilung. Vorteilhaft ist dabei, dass keiner der beiden wirklich schläft, während der andere auf Schicht ist. Und dass die beiden im Lektorat nicht in einer Räuber-Beute-Beziehung stehen.